FeuilletonLiteratur

Jules Verne

Ungarischer Lloyd • 28.2.1873

Voraussichtliche Lesezeit rund 5 Minuten.

Eines Tages wird in den Blättern zu lesen sein:

»Alles spricht leider dafür, dass das Segelschiff ›Saint Michel‹, das bei Beginn des Frühjahrs von Crotoy aus in die See gestochen und von dem man seit einem Jahre keine Nachrichten hatte, mit Mann und Maus in den nordischen Meeren zugrunde gegangen. Dieser Feuilleton-Artikel über Jules Verne und sein Werk aus dem Ungarischen Lloyd dürfte wohl zu den frühesten Dokumenten der Verne-Sekundärliteratur in deutscher Sprache zählen. Er zeichnet ein Porträt der Person und des Autors Verne aus den wenigen Informationen, die man über ihn hatte, angereichert mit einer Handvoll Anekdoten. Als Quelle diente dem Verfasser mit dem Kürzel ›-tsch‹, vermutlich ein Lloyd-Redakteur mit dem Namen ›Deutsch‹ (?), ein Artikel von Adrien Marx der im Pariser Figaro erschienen war. • Gerd Schubert Die Bemannung bestand aus Jules Verne, dem populären Autor wissenschaftlicher Romane, die den Herausgeber Hetzel bereichert haben, aus Alexander Delon, einem alten, wegen seiner Kaltblütigkeit und Erfahrung bekannten Fischer und einem jungen Matrosen, der auch als Koch verwendet wurde. Der ›Saint Michel‹ war Eigentum Vernes, der an seinem Bord die Hälfte seines Lebens zubrachte und dort die meisten seiner interessanten Werke geschrieben oder entworfen hat.«

Dieser traurigen Nachricht werden in allen Zeitschriften mehr oder weniger exakte biografische Mitteilungen folgen; in der Presse beider Hemisphären, welche die Werke Vernes kennen, wird einstimmiges Lob erschallen und wird demselben Schmerz Ausdruck gegeben werden! … Aber auf einmal wird man durch den Telegrafen erfahren, dass der ›Saint Michel‹ wohlbehalten und ohne Havarien in der Bai von Somme eingelaufen und dass sein Eigentümer von seiner langen und gefährlichen Exkursion ein Buch mitbringe, dass seinen Verleger wieder bereichern müsse.

* * *

Jules Verne ist gegenwärtig vierzig und einige Jahre alt. Er ist – schreibt Adrien Marx im Pariser Figaro, dem wir diese geistreiche Skizze entnehmen – er ist ein guter Junge, liebenswürdig im Umgange und gegenüber Unbekannten von einer beinahe weiblichen Schüchternheit. Eine gewisse Reserve bewahrt er selbst seinen Freunden gegenüber; aber immer ist er bescheiden und man sieht, dass er der Einzige ist, der nicht weiß, dass er ein enormes Talent besitzt. Früher trug er das Gesicht glatt rasiert und glich dem Bilde Lord Byrons; jetzt trägt er einen Vollbart und erinnert an den Demosthenes in der Galerie der Antiken.

* * *

Wunderbar begabt und von einer encyklopädischen Bildung wird er bei seinen Arbeiten von einem merkwürdigen Gedächtniß unterstützt. Eines Tages war er in Gesellschaft eines Römers und die Rede kam auf Rom. Der Italiener, der in der Nähe des Capitols geboren wurde und dort wohnte, bewunderte den Redefluss und die pittoreske Sprache seines Tischgenossen, der ihm der Reihe nach alle Monumente und die geringfügigsten Ruinen der ewigen Stadt beschrieb! Verne fragte dann nach einem alten Bettler, der gewöhnlich an der Ecke der Via sacra, gegenüber dem Laden eines Pastetenbäckers, postiert war.

»Er steht noch immer dort.«

Und lebt noch die hübsche Tochter des Portiers im Vatikan?

»Ja.«

Hat man Stufen bei den Treppen des Forum gemacht?

»Der König hat es angeordnet; ausgeführt wurde es noch nicht … Aber, mein Herr, Sie kennen ja Rom besser als ich, der ich ein Römer bin. Sie wohnen lange Jahre dort?«

Ich, ich habe nie einen Fuß hineingesetzt; aber ich las und lese alle auf Ihre Vaterstadt bezüglichen Werke.

Wir – fügt Marx hinzu – die wussten, dass es so sei, kamen nicht mehr darauf zurück, der Römer erklärte ihn für einen – Blagueur.

* * *

Verne hat eine große Abneigung gegen den Süden: »der Norden zieht mich an«, sagt er. Ah, sprechet mir von dem Eismeer, aber geht nur mit euerem Mittelmeere. Das ist ein schläfriger, zornloser See; er mag schäumen, wie er will, ich halte ihn darum doch für kein Meer. Wenn ich an seinem Ufer stehe, so dünkt es mir, als könnte ich, wenn ich mich auf die Fußspitzen stelle, die andere Küste erblicken und wenn ich in Marseille niese, glaube ich in Afrika ein spöttisches »Helf Gott« zu vernehmen.

* * *

Er war der Reihe nach Advokat, dramatischer Schriftsteller, Sekretär des Théâtre-Lyrique und der komischen Oper, dann Börsianer, als der glänzende Erfolg seines Fünf Wochen im Luftballon seine Laufbahn entschied. Als Librettist der Bouffes schrieb er unter dem Namen ›M. de Chimpansé‹ eine Operette und zu dieser Zeit war er auch Teilnehmer an dem Diner der ›onze cent femmes‹.

Diese Diners fanden in einem Kabinet bei Brébant statt und vereinigten 11 Musiker und dramatische Autoren, die man trotz des Namens ihrer Gesellschaft mit Unrecht für ebenso viele Don Juans halten würde.

Diese Gesellschaft hieß eigentlich ›onze-sans-femmes‹ (Die Elf ohne Frauen und nicht ›Elfhundert Frauen‹), weil sie sich verpflichtet hatten, die Anwesenheit des schönen Geschlechtes nicht zu dulden.

* * *

Wenn sich Verne in vertrautem Kreise befindet, gibt es keinen interessanteren Erzähler. Sein Wort hat denselben Reiz wie seine Feder. Bevor er ein Buch schreibt, lebt er mit seinen Helden. (»Die nur Franzosen sind,« sagt Marx, was aber unrichtig ist, da der prächtige Michel Ardan z. B. in Die Reise um den Mond ein Gascegner ist, – d. Red.) und indem er sich selbst zum Helden macht, glaubt er endlich, dass seine Romane ihm selbst passiert sind. Er steht nicht an, zu bemerken: »Wenn Sie wüssten, wie ich mich auf meiner Reise zum Mittelpunkte der Erde unterhalten habe …«

Oder: »Ein braver Junge, dieser Kapitän Hatteras, unfähig einer schlechten Handlung und leichtlebig …«

Man fragte ihn, warum er nie Frauen in die Handlung aufnehme, worauf er erwiderte: »Nein, nein, keine Frauen! Sie würden die ganze Zeit sprechen und die Anderen könnten nichts sagen.«

Seine überreiche Fantasie, die aber immer auf logische und in der Theorie realisierbare Tatsachen begründet ist, zieht ihn zu unsinnigen Projekten, wenn sie nur gigantisch sind.

»Ich werde die ganze Erde beschreiben«, sagte er einmal, »das ist ausgemacht. Ich habe hier eine Kugelkarte, auf der ich meine Reisen (er vermengt die seinigen mit denen seiner Helden) mit roter Tinte in der Weise bezeichnet habe, dass ich genau sehe, die ich noch zu machen habe; aber der Globus genügt mit nicht. Ich will die Welt, den Raum, die Sterne besuchen. Es fehlen mir die Beförderungsmittel, man wird sie finden. Vor zehn Jahren ist ein Komet mit dichtem Schweif in die Erdbahn gelangt, gerade einen Monat nach ihr. Nehmen Sie an, die Erde wäre in ihrem Laufe durch irgend eine Ursache aufgehalten worden …«

Durch das Vergessen ihres Sacktuches vielleicht? Meinte man. –

Ich spreche ernsthaft … Nehmen Sie an, die Erde hätte einen Monat Verspätung …

Nun?

Nun, dann gäbe es einen Zusammenstoß.

Und wir würden pulverisiert?

Keine Spur. Die Kometen sind nicht so bösartig; es gäbe einen einfachen Zusammenstoß. Der Komet würde vermutlich ein Stück von unserem Globus mitnehmen, ein Departement vielleicht. Ich bin zufällig dort, und da der Komet seine Bahn verfolgt, das Departement samt dessen Präfekten und einen starken Vorrat genießbarer Luft mit sich tragend, so lebe ich einige Jahre in dem Feuerhimmel, mit meinem Kometen in Gesellschaft eines geistreichen Beamten fort reitend, und mache Noten in der Erwartung, dass ein neuer Zusammenstoß mich den Präfekten und das Departement auf diese im Vergleich mit dem Universum winzig kleine Erde setzt …

Ah, – schloss Verne seine Auseinandersetzung – das ist die Idee eines neuen Buches. Nach der Veröffentlichung von Das Land der Pelze und Die Geheimnisvollen Insel werde ich mich daran machen.

– tsch

• Auf epilog.de am 3. Oktober 2000 veröffentlicht

Reklame